Ein sehr frühes Automobil, das noch eher an eine Kutsche erinnert und weder über ein Kennzeichen noch über Lichter verfügt, wird von einem jungen Mann gefahren. Er trägt eine Kappe, Hemd, Krawatte und einen Mantel - er dürfte ein Chauffeur sein. Da rechts und links der Sitzbank Fähnchen angebracht sind, bietet er seine Dienste vielleicht Touristen an.
Das Fahrzeug wurde vor einem Werbeschild für ein Grand Hôtel angehalten, sodass der Schriftzug gut leserlich ist. Die Automobilisten werden hier zu einem Stopp im Grand Hotel in Canadel, der Perle der Küste, aufgefordert. Man wirbt damit, dass es ganzjährig geöffnet ist und höchsten Komfort sowie eine Garage bietet – und das zu moderaten Preisen.
Beginnen wir aber zunächst mit ein wenig Geografie: es geht um die kleine Gemeinde Rayol-Canadel-sur-Mer an der französischen Mittelmeerküste (Côte d’Azur), die damals noch zu La Môle gehörte. Sie liegt zwischen Lavandou im Westen und Saint-Tropez ein Stück weiter im Osten. Lange Zeit war die Küste des Maurengebirges fast unbewohnt. Ausnahmen bildeten lediglich die Hütten von Schäfern und Korkbauern.
Die Entwicklung der touristischen Nutzung des Landstrichs war wieder einmal an den Bau einer Eisenbahnlinie (Chemin de Fer du Sud de la France) gebunden. Ab 1890 machte der Zug auf der Verbindung zwischen Toulon und Saint Raphael auch in der kleinen Station von Rayol-Canadel-sur-Mer halt. Im Hintergrund unserer Fotografie könnte diese Linie verlaufen.
Der eigentliche Ausbau zu einem Bade- und Kurort wurde erst 1925 durch umfangreiche Arbeiten eingeleitet (es wurden Straßen, eine Pergola und eine große Blumentreppe, Hotels, eine Kirche, etc. gebaut). Dieses späte Jahr passt jedoch nicht zu unserer Fotografie, und im Zuge einer neuerlichen Recherche tauchten alte Ansichtskarten eines im Jahr 1909 errichteten Grand Hotels auf, das exakt zur Beschreibung auf der Werbetafel passt: das Grand Hôtel du Canadel. Auf der Karte steht weiters: Climate et site incomparables (unvergleichliches Klima und Lage). Aus den Quellen geht auch hervor, dass berühmte Franzosen, z.B. der Architekt Charles Sarazin und der Pariser Geschäftsmann Alfred-Théodor Courmes im Ort Grundstücke erwarben und schon kurz nach der Jahrhundertwende erste Villen bauten.
Die Fotografie ist definitiv ein sehr interessantes Zeitdokument – leider ist es ein einzelnes Glasnegativ im Format 9 x 12 cm und nicht Teil eines Konvoluts.
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rayol-Canadel-sur-Mer
https://www.rayol-canadel.fr/fr/origine-histoire-commune.htm
https://www.provence7.com/a-a-z-des-articles/le-rayol-canadel-a-visiter-83/
https://hal.science/hal-02919394/document
https://www.rayol-canadel.fr/fr/patrimoine-architectural.htm
https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Toulon%E2%80%93Saint-Rapha%C3%ABl