· 

London - eine Weltstadt mit Flair

 

Die Reisenden, unter ihnen unser anonymer Fotograf, besuchten vor circa 120 Jahren das Zentrum von London und hielten auf Stereoplatten zahlreiche Sehenswürdigkeiten fest, die sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreuen. 

 

Die genaue Route kann natürlich nicht rekonstruiert werden, daher präsentieren wir die Bilder in einer Reihenfolge, die durchaus möglich gewesen wäre und beginnen auf der Themse. Die Familie reiste entweder auf dem Wasser an (eine Abbildung zeigt ein junges Paar an Deck eines großen Segelschiffs mit Beiboot) oder unternahmen eine Bootsfahrt während ihres Aufenthalts.

 

 Ein Motiv, das man sofort mit London in Verbindung bringt, ist die Tower Bridge – eine kombinierte Hänge- und Klappbrücke. Sie wurde nach Plänen von Horace Jones im neugotischen Stil errichtet und 1894 eröffnet. Beim Besuch unserer Reisenden war sie daher noch relativ neu und bestimmt eine Attraktion. Die Brücke ist insgesamt 244 Meter lang und die beiden Brückentürme sind 65 Meter hoch. Die Fahrbahn für den zunehmenden Verkehr, d.h. Kutschen, Kraftfahrzeuge und Fußgänger befindet sich neun Meter über dem Fluss, sodass kleinere Boote darunter passieren können.

 

 

Um großen Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen, können die beiden Baskülen (= bewegliche Tragwerkteile) innerhalb weniger Minuten hochgeklappt werden – und zwar so weit, wie es für die einzelnen Schiffe notwendig ist (bis max. 86°). Fußgängern ist der Weg dennoch nicht abgeschnitten, denn zwischen den beiden Türmen verlaufen zwei Stege. Da diese jedoch nur über Treppen erreichbar sind und sich in einer Höhe von 43 Metern befinden, bevorzug(t)en es viele, diese Anstrengung zu vermeiden und einfach abzuwarten. 1910 wurden diese Fußgängerbrücken dann ohnehin für Jahrzehnte geschlossen, weil sich dort Prostituierte und Taschendiebe tummelten.

  

Für den Bau waren übrigens 11.000 Tonnen Stahl nötig. Die Konstruktion wurde mit Kalkstein verkleidet, um den Stahl zu schützen und für ein attraktives Erscheinungsbild zu sorgen. Die britischen Nationalfarben (Rot, Weiß, Blau) erhielt die Tower Bridge erst 1977 zum silbernen Thronjubiläum von Elizabeth II.

Das Foto zeigt, dass die Themse auch ein wichtiger Verkehrsweg war, auf dem viele Güter, wie z.B. Holz, transportiert wurden.

 

Ein Stück flussaufwärts gelangten die Reisenden zum Palace of Westminster in der City of Westminster. Er ist Sitz der britischen Regierung, bestehend aus dem Oberhaus (House of Lords) und dem Unterhaus (House of Commons) und wird deshalb auch Houses of Parliament genannt. Der Palast diente den englischen Königen ursprünglich als Residenz, doch das ist schon einige Jahrhunderte her. Nach einem Großbrand 1834 wurde der Gebäudekomplex bis 1870 im neugotischen Stil wieder aufgebaut.

Die Aufnahme zeigt links im Vordergrund den Victoria Tower (über 98 Meter hoch an der Südwestecke), den man nach der damals herrschenden Monarchin, Königin Victoria, benannte. Auf der Turmspitze erkennt man einen Fahnenmast und eigentlich sollte dort entweder die Union Flag wehen oder der Royal Standard gehisst sein, wenn die Monarchin im Gebäude weilte. Am Fuße des Turms befindet sich außerdem der Eingang, den die Monarchen nutzen, um in den Westminster Palace zu gelangen (z.B. zur Parlamentseröffnung).

 

An der gegenüberliegenden Nordwestecke sieht man den wohl berühmtesten Turm: den ca. 96 Meter hohen Uhrturm (seit 2012 Elizabeth Tower genannt). Die Glocke, die offiziell Great Bell of Westminster heißt, wird jedoch meist liebevoll Big Ben genannt. Weitere Türme befinden sich entlang der Fassade, die übrigens ursprünglich aus einem sandfarbenen Kalkstein aus South Yorkshire bestand. Das Gestein wies aber aufgrund schlechter Qualität und der durch die Industrialisierung verursachten Luftverschmutzung bald größere Schäden auf; bis 1913 wurde jedoch nichts dagegen unternommen. Auf der Fotografie ist gut zu erkennen, wie dunkel das Gebäude zu dieser Zeit bereits war.

  

Es ist denkbar, dass die Reisenden in der Nähe des Westminster Palace von Bord gingen und ihre Erkundungstour zu Fuß fortsetzten, da eine weitere Fotografie die Rückseite des Palastes zeigt. Sie wurde in der Abingdon Street auf Höhe des Old Palace Yard aufgenommen. Dort befindet sich auch (teilweise im Schatten und daher am Foto kaum zu sehen) die Statue von King Richard I. von England (Richard Löwenherz). Im Hintergrund erkennt man das markante Dach des Uhrturms. Ein Passant ist mit dem Fahrrad unterwegs (rechts von ihm sieht man die Statue von Oliver Cromwell), andere zu Fuß oder mit einer Kutsche. Interessant ist auch das große eingerüstete Gebäude links.

 

An dieser Stelle (auf der gegenüberliegenden Straßenseite, westlich des Palace of Westminster) entstand eine Aufnahme, die den hinteren Bereich der Westminster Abbey zeigt. In der Abtei, die Eigenkirche (royal peculiar) der britischen Monarchie ist, finden bedeutende Ereignisse, wie die Krönung von Königen und Königinnen, statt. Erwähnenswert sind auch die beiden sich unterhaltenden Männer auf dem Pferdefuhrwerk sowie ein Mann, der seinen Karren, auf dem er u.a. geflochtene Körbe hat, schiebt.

Vielleicht gingen unsere Touristen dann einfach weiter geradeaus, folgten der Parliament Street und gelangten in eine weitere bedeutsame Straße: Whitehall. Dort fotografierten sie das Horse Guards Gebäude und zwei uniformierte Soldaten auf Pferden, die Wache halten. Das Gebäude befindet sich zwischen Whitehall und Horse Guards Parade, wo das Trooping the Colour stattfindet. Horse Guards gilt als Eingang zum St. James’s Palace und so ist es kaum verwunderlich, dass durch den mittleren Torbogen nur Mitglieder der Königsfamilie fahren dürfen.

Einige männliche Passanten gehen ihrer Wege, einer fährt mit dem Fahrrad und rechts drängt sich eine Kutsche mit einer Werbung für Nestle’s Milk ins Bild. 

 

Folgt man dieser Straße weiter, gelangt man schließlich zum Trafalgar Square mit der berühmten Nelsonsäule (Nelson’s Column). Im Hintergrund ist noch die Kuppel der National Gallery zu erkennen. Das Straßenbild prägen wiederum hauptsächlich Männer. Zwei elegante Damen haben oben auf der Kutsche Platz genommen. Es wird auch hier wieder für Nestle’s Milk geworben - außerdem für Alhambra (vielleicht das beliebte Theater im West End) und Grape-Nuts. Rätsel gibt das weiße Gefährt mit der Aufschrift J. Gilson (oder Cilson?) am Straßenrand auf.

 

Neben den prunkvollen Häusern sollen auch die kunstvollen Straßenlaternen erwähnt werden. Beim Gebäude vorne links handelt es sich um Drummonds – eine bis 1924 unabhängige Privatbank der Familie Drummond, unter deren Kunden auch royale Persönlichkeiten waren. Dort wo heute das Trafalgar Theatre ist (errichtet 1930) stehen auf unserer Fotografie zwei kleinere Häuser. Erst das nächste Backsteinhaus, das Pub Horse and Guardsman – zuvor die Räumlichkeiten der Bankiers Cocks Biddulph & Co – gibt es heute noch. 

Das nächste Foto führt uns zu einer weiteren bedeutenden Straße und Hausnummer: 190 - 195 Piccadilly. Auf Höhe der Sackville Street gegenüber des Burlington House befindet sich eine auffällige Fassade mit der Aufschrift „Royal Institute of Painters in Water Colours“. Es handelt sich dabei um eine Vereinigung von Malern, die mit Wasserfarben arbeiteten und für die Anerkennung von Aquarellen als ernsthafte Kunst kämpften. Den Zusatz „Royal“ durfte man erst führen, nachdem Königin Victoria dem Institut 1885 die Royal Charter verliehen hatte.

Diese mehrspurige Straße wirkt stark  befahren. Handelte es sich um eine Einbahn? Kutschen und Karren dominieren das Bild. Bisher kann man auf den Fotografien kein einziges Automobil sehen, was für das frühe Entstehen der Aufnahmen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts spricht.

 

 

Quellen: (abgerufen von 05.01. – 15.01.2023)

https://de.wikipedia.org/wiki/Tower_Bridge

https://de.wikipedia.org/wiki/Westminster_Abbey

https://de.wikipedia.org/wiki/Palace_of_Westminster

https://de.wikipedia.org/wiki/Victoria_Tower_(London)

https://de.wikipedia.org/wiki/Tower_Bridge

https://de.wikipedia.org/wiki/Horse_Guards_(Geb%C3%A4ude)

https://de.wikipedia.org/wiki/Royal_Institute_of_Painters_in_Water_Colours

 

http://royalinstituteofpaintersinwatercolours.org/history/