Zunächst widmete ich mich jener Fotografie, die im Vordergrund rechts eine Litfaßsäule zeigt. Leider beschränkte sich die Information, die sie liefert, ausschließlich auf Werbung. So haben wir ganz oben den Schriftzug BYRRH. Es handelt sich dabei um einen bittersüßen Aperitif. Weiters wird für Peach Brandy Cusenier, Maggi, Le Petit Journal (eine Zeitung) und für Schokolade der Marke Menier geworben.
Anschließend vergrößerte ich den Ausschnitt des Platzes im Hintergrund, doch dort waren die Tafeln nicht mehr lesbar (zu unscharf). Somit wandte ich mich den Laternen (RF steht für République francaise) und Gebäuden auf der linken Seite zu. Auf der Markise war dann der Name eines Restaurants zu entziffern: Taverne de Lyon. Das war zwar ein Hinweis auf die Stadt, doch Lokale mit diesem Namen findet man auch in anderen Städten. Dennoch war es ein erster Anhaltspunkt, den ich überprüfen konnte. Im Internet entdeckte ich eine Inhaberaktie von einhundert Francs der Taverne de Lyon und folgender Adresse: 50, rue de la République – Lyon. Rasch fand ich die genannte Straße auf dem Stadtplan und hatte gleichzeitig auch den Platz im Hintergrund identifiziert: Place de la République. Mit diesen Suchbegriffen stieß ich auf zahlreiche historische Ansichtskarten, die mir als Bestätigung dienten.
Ich wandte mich der zweiten Aufnahme zu. Meine Vermutung war, dass es sich um dieselbe Straße handelte.
Schließlich fand ich auch dieses Motiv auf alten Postkarten. Da der Ausschnitt jeweils leicht variierte, waren insgesamt mehr Informationen verfügbar. Man konnte etwa die Hausecke des ersten Gebäudes auf der linken Seite sehen, was mir half, die entdeckten Begriffe wie SOIERIES (dt. Seiden) richtig einzuordnen. Auch der Schriftzug DEUX PASSAGES im obersten Stockwerk machte nun Sinn: es handelte sich um das Kaufhaus ‚Aux deux passage‘. Die Ansichtskarten zeigten weiters, dass viele Markisen den Fußgängern Schatten spendeten. Diese sind auf unserer Fotografie kaum zu sehen, was daran liegt, dass sie im Winter aufgenommen wurde.
Das bringt uns zur nächsten Gemeinsamkeit der beiden Bilder: den Lichterketten. Auf den Laternen wurden Sterne befestigt und über die Straße in regelmäßigen Abständen sogenannte guirlande électrique gespannt. All das weist auf die Weihnachtszeit hin. Während für uns die Weihnachtsbeleuchtung in den Städten ein fixer Bestandteil ist, war sie damals noch etwas Besonderes.
Die Elektrizität begeisterte die Menschen und ihr wurde bei den Weltausstellungen viel Aufmerksamkeit gewidmet. Besonders schön war beispielsweise 1900 der in der Nacht beleuchtete Eiffelturm in Paris. Leider konnte ich im Archiv von Lyon (noch) keine Informationen über die Weihnachtsbeleuchtung finden. Es wäre interessant zu wissen, wann sie eingeführt wurde. So ist es umso schwieriger, das Entstehungsjahr der Fotografie zu bestimmen. Meine Schätzung liegt um 1910 bzw. in den 1910er Jahren.
Foto rechts: Dieser Ausschnitt der ersten Fotografie zeigt sowohl die weihnachtlich geschmückte Rue de la République, als auch das Restaurant Taverne de Lyon (siehe Beschriftung auf der Markise).
Das dritte Foto wurde zwar auch in Lyon, aber an einem Fluss aufgenommen. Die Einheimischen pflegen zu scherzen, dass drei Flüsse ihre Stadt durchqueren: die Saône, die Rhône und der Beaujoulais.
Wo sollte ich bloß mit der Suche beginnen? Ich hielt zunächst Ausschau nach besonderen Merkmalen, wie der Kirche im Hintergrund und befolgte einmal mehr meine Regel Nummer Eins: in Bild hineinzoomen. Auf einem der Boote am Quai wurde ich fündig: ILE BARBE. Diese Insel liegt in der Saône und an deren Ufern machte ich mich mittels Stadtplans auf die Suche nach der passenden Kirche.
Es handelt sich um die Église Saint-George am Quai Fuchiron. (Bereits 550 wurde dort eine Kirche erbaut. Sein heutiges Aussehen erhielt das im neogotischen Stil gestaltete Gotteshaus 1848 und zwar vom Architekten Pierre Bossan, von dem auch die Pläne für die Basilika Notre-Dame de Fourvière stammen). Ein weiteres Detail auf der Fotografie stellt die Fußgängerbrücke dar, die es ebenfalls heute noch gibt.
Um ein besseres Gefühl für die Umgebung zu bekommen, startete ich Google Street View und „fuhr“ die beiden Flussufer ab. Am Quai du Maréchal Joffre entdeckte ich (am linken Saône-Ufer im 2.
Arrondissement) den ungefähren Standort unseres anonymen Fotografen. Eindeutig identifizieren lässt sich das Gebäude mit der Hausnummer 8 (Quai du Maréchal) sowie das Nachbargebäude. Sie weisen
besondere architektonische Merkmale auf und vereinfachten dadurch die Suche.
Am Quai befinden sich an diesem sonnigen Tag, der fotografisch festgehalten wurde, sehr viele elegant gekleidete Menschen. Dicht gedrängt stehen sie am Ufer. Ihren Blick haben sie auf den Fluss gerichtet, wodurch die Vermutung naheliegt, dass es sich um ein besonderes Ereignis oder eine Veranstaltung handelt. Auffällig sind zwar die Ruderboote am Wasser – die Szene wirkt jedoch etwas unkoordiniert, wodurch ich nicht unbedingt an ein Wettrudern denke.
Mit dieser Fotografie wollte ich eigentlich den historischen Ausflug nach Lyon beenden. Doch je mehr ich recherchierte, desto mehr Bilder blitzten in meiner Erinnerung auf und so öffnete ich Dateien bereits digitalisierter Glasplattennegative – und da waren sie: weitere Aufnahmen von Lyon, die ich bisher nicht zuordnen konnte. „Puzzleteile“, die ich noch vor einigen Monaten vergeblich hin und hergeschoben habe, passen plötzlich ganz einfach und völlig mühelos. Tja, diese Arbeit erinnert mich tatsächlich ans Puzzlebauen, denn es gibt Zeiten, da steckt man fest, probiert – aber bleibt erfolglos. Ein anderes Mal findet man sofort die richtigen Teile bzw. Informationen und im nu ergibt sich ein zusammenhängendes Bild. In diesem Sinne: Bauen wir noch ein bisschen weiter.
Die folgenden Bilder stammen von Stereoplatten und daher gibt es jeweils zwei fast identische Aufnahmen. Beginnen möchte ich mit einer Fotografie, die mir ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht zauberte. Was für ein Zufall: Wir stehen nur wenige Meter vor einem eben erst gezeigten Aufnahmestandort!
Das Foto wurde auf dem Place de la République aufgenommen. Hinter diesem Denkmal liegt die Rue de la République und beim Gebäude links handelt es sich um das Kaufhaus Aux deux passages! Neben SOIRIES kann man nun auch NOUVEAUTÉS (= Neuheiten), ROBES (= Kleider) und TROUSSEAUX (trousseau de clés = Schlüsselbund; trousseau de mariée = Aussteuer) gut lesen. Im Zentrum des Platzes befindet sich das Denkmal des französischen Präsidenten Sadi Carnot, das im November 1900 eingeweiht wurde – die Fotografie musste daher später entstanden sein.
Auf einer Wand (links im Bild) sind große Werbungen angebracht. Ganz oben rühmt sich etwa der Hersteller von Minz-Alkohol, RICQLES, seiner 60-jährigen Erfolgsgeschichte. Dieses Getränk existierte seit 1838 und somit ergibt eine einfache Rechnung das Jahr 1898 (die Jahrhundertwende kommt daher als Entstehungszeit der Fotografie in Frage). Eine weitere Anzeige weist den Weg zum einem großen Kleidergeschäft (À la Grande Maison: vêtements). Im Erdgeschoß des Hauses befindet sich ein Friseur. Anhand der Blätter auf den Bäumen und der blühenden Blumen kann die Jahreszeit ein wenig eingegrenzt bzw. der Winter ausgeschlossen werden.
(Anmerkung zu den Stereoplatten: Nicht nur der Ausschnitt, sondern auch die Qualität variiert. Rathausbilder: die Schärfe ist beim rechten Bild besser, sodass man die Schrift auf der Litfaßsäule oder der Laterne lesen kann. Auf letzterer steht: Rue Sainte Marie des Terreaux - diese Straße beginnt mit einer Treppe, die vom Place des Capucins hinunter zur Place des Terreaux führt.)
Zwei weitere Fotografien wurden auf dem Platz Terreaux aufgenommen. Man erkennt das Rathaus (= Hôtel de Ville) und die Fontaine Bartholdi – einen Brunnen, der nach dem Bildhauer benannt ist, von dem der Entwurf stammt. (Ein interessantes Detail: auch die Freiheitsstatue in New York wurde von Bartholdi entworfen.) Ursprünglich hatte die Stadt Bordeaux den Brunnen in Auftrag gegeben. Dieser wurde auf der Weltausstellung in Paris 1889 präsentiert: auf einem Triumphwagen sitzt die Meeresgöttin Amphitrite mit zwei Amphoren haltenden Kindern. Vier Pferde ziehen den Wagen, der sich aus Wasserlebewesen zusammensetzt. Da das Werk der Stadt Bordeaux zu teuer war, erwarb stattdessen die Stadt Lyon Bartholdis Brunnen. 1892 wurde er gegenüber dem Rathaus eingeweiht. (Aus der Amphitrite wurde außerdem Marianne, die Nationalfigur der Französischen Republik.) Ein Jahrhundert später wurde der Brunnen ein wenig versetzt, sodass er nun gegenüber dem Musée des Beaux-Arts zu finden ist.
Im Hintergrund ist das Palais des Arts (heute: Musée des Beaux-Arts) zu sehen. Das Gebäude war ursprünglich eine Abtei der Benediktiner, wurde jedoch im Zuge der Französischen Revolution aufgelöst. Ab dem 19. Jahrhundert beherbergte es eine Zeichenschule, die Musterzeichner für die in Lyon ansässige Seidenindustrie ausbildete. Erst im Jahr 1860 wurde daraus das Palais des Arts.
Das Beste kommt zum Schluss: Eine besonders alte Fotografie der Basilika Notre-Dame de Fourvière. Das Glasnegativ wurde zwar beschriftet, doch während man Lyon noch gut lesen kann, muss man beim Datum schon raten: 20 juillet (= Juli). Eine Jahreszahl dürfte fehlen oder ist nicht erkennbar. Das nächste Wort Église (= Kirche) ist lesbar, nicht jedoch der Name der Kirche. Den konnte ich erst durch das Vergleichen mit historischen Aufnahmen ermitteln.
Die auf einem Hügel gelegene und von Weitem sichtbare Votiv- und Wallfahrtskirche wurde 1896 eingeweiht. Die Rückseite ist auf der Fotografie noch eingerüstet und somit noch unvollendet. Die Aufnahme musste daher kurz zuvor entstanden sein. Auch wenn das Glasnegativ schon einigermaßen beschädigt ist und nur durch die Bildbearbeitung am Computer so weit wiederhergestellt werden konnte, stellt es dennoch ein sehr seltenes Zeitdokument dar. Die Basilika wurde übrigens neben der alten Kapelle errichtet. Lyon blieb im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) von preußischer Besatzung verschont und zum Dank wollten die Bürger die neue Kirche bauen. Architekt war Pierre Bossan.
Die Zeitreise nach Lyon geht nun zu Ende. Drei Reisen - getätigt vor über hundert Jahren und zu verschiedenen Jahreszeiten haben uns einen kleinen Eindruck über die Geschichte dieser beeindruckenden Stadt vermittelt. Wer weiß, vielleicht können wir noch mehr Glasplatten aufstöbern und die Werke der Fotografen und Fotografinnen zeigen.
Quellen:
Lyon en 1900. Unter: https://www.vanupied.com/lyon/photos-lyon/lyon-en-1900-magnifiques-photos-en-couleurs.html (abgerufen am 31.01.2022)
https://cronobook.com/pic/e9653ab4-d7c1-4ac7-afee-ffaf85645466 (abgerufen am 31.01.2022)
https://cronobook.com/pic/97fa39ad-4c8b-41de-bb1b-6cb5606e5327 (abgerufen am 31.01.2022)
https://www.hippostcard.com/listing/lyon-rhone-france-1900-1910s-rue-de-la-republique-store-fronts-classi/17364711 (abgerufen am 31.01.2022)
From the construction of the basilica to the present days. Unter: https://www.fourviere.org/en/discover/history/from-the-construction-of-the-basilica-to-the-present-days (abgerufen am 11.02.2022)
Fontaine Bartholdi. Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Fontaine_Bartholdi (abgerufen am 11.02.2022)
Musée des Beaux Arts. Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Mus%C3%A9e_des_Beaux-Arts_(Lyon) (abgerufen am 11.02.2022)