Die Erfolgsgeschichte des Automobils begann Ende des 19. Jahrhunderts als Tüftler und Bastler in unterschiedlichen Teilen der Welt nach einer neuen Form der Fortbewegung suchten. Die Automobilpioniere träumten von der Motorisierung und sie wollten einen höchstmöglichen Grad an Freiheit durch individuelle Fortbewegung erlangen. Man wollte sein Ziel und den Weg dorthin freier bestimmen können und nicht wie bei der bereits existierenden Eisenbahn an eine vorgegebene Streckenführung gebunden sein.
Das Aussehen und die Entwicklung der neuen Fahrzeuge orientierten sich anfangs sehr stark an dem, was die Konstrukteure bereits kannten, d.h. an Fahrrädern, Pferdekutschen und der Eisenbahn. Es verwundert daher kaum, dass die ersten Automobile wie Kutschen aussahen und dampfbetriebene Fahrzeuge hergestellt wurden. Das Privileg, ein solches Auto zu besitzen, war sehr wenigen Menschen vorbehalten - Spielzeug der Reichen wurde es daher genannt.
Natürlich gab es auch genug Skeptiker und Kritiker, denen man die Vorzüge des Kraftwagens schmackhaft machen wollte, indem man betonte, dass ein Pferd im Gegensatz zum Auto immer bewegt, gefüttert und gepflegt werden musste. Einen entsprechenden Beitrag dazu konnte man sogar im Brockhaus-Konversationslexikon lesen:
„Die Vorteile dieser motorisch bewegten Straßenfuhrwerke gegenüber den von Zugtieren gezogenen sind mehrfache. Zunächst lassen sich mit Motorwagen größere Geschwindigkeiten, auch für längere Zeitabschnitte, erreichen als mit Zugtieren; auch größere und anhaltende Steigungen werden leichter überwunden. Dabei sind die Betriebskosten bei M. erheblich geringer als bei Pferdebetrieb, […] weil der M. nur während der Fahrt Betriebskosten verursacht, während Pferde gefüttert werden müssen, auch wenn sie nicht gebraucht werden. Für verkehrsreiche Städte bringen die M. noch die schätzbaren Vorteile, daß sie weniger Raum beanspruchen als die mit Pferden bespannten Fuhrwerke, und daß die Verunreinigung der Straßen vermieden wird.“ Brockhaus-Konversationslexikon, 1894-1896
Wir können auf den folgenden Bildern frühe Automobile zeigen, die tatsächlich wie Kutschen aussehen. Das Fahrzeug auf der ersten Fotografie verfügt dementsprechend über eine Art Kutschbock, also einer Sitzbank auf der der Kutscher während der Fahrt saß, obwohl sich Lenker und Hupe dahinter befinden. Auf dem Gehsteig steht eine Gießkanne – es wurde viel Kühlwasser benötigt.
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Obwohl die französische Automobilindustrie in Sachen Innovation, Fortschritt, Produktionszahlen und Marken als führend galt (vor 1918 gab es in Frankreich hunderte (sehr) kleiner Automobilfabriken – von denen allerdings viele nicht überlebten) darf man die Pionierarbeit und großartigen Leistungen der Deutschen nicht unerwähnt lassen: allen voran Benz, Daimler und Maybach.
Daimler präsentierte auf der Pariser Weltausstellung 1889 seinen Zweizylinder-V-Motor (Verbrennungsmotor) und in der Folge bauten die meisten Firmen Benzinmotoren ein, z.B. auch die französischen Firmen Panhard & Levassor und Peugeot. Letztere wollten „Damen schicklich befördern“ (ohne Strampeln). Bei der Weltausstellung von 1900, die ebenso in Paris stattfand, stellte Ferdinand Porsche den ersten (im Auftrag der Wiener Wagenbaufirma Jacob Lohner & Co entwickelten) Hybridwagen mit Elektromotor vor. Mir war nicht bewusst, dass man so früh schon an Elektromotoren gearbeitet hatte – da aber die Elektrizität zu dieser Zeit ein großes Thema war, scheint auch dieser Ansatz durchaus logisch.
Da es so viele Autobauer, aber noch keine Firmenembleme gab, die eine Bestimmung von Fahrzeugmarken ermöglichen, können die Automobile auf den Fotografien nicht verlässlich zugeordnet werden. Das Auto auf der dritten Fotografie (siehe unten) hat z.B. eine sehr charakteristische runde Form und somit große Ähnlichkeit mit einem Delaunay-Belleville, aber ein paar Unterschiede lassen mich zweifeln. (Die französischen Modelle wurden übrigens weltweit zum Baumuster für neue Hersteller und ähnelten sich somit.) Als nützlich erwiesen sich hinsichtlich der zeitlichen Einordnung wieder einmal die Kennzeichentafeln.
Rücksichtslose Fahrer, die auf den Schotterstraßen viel Staub aufwirbelten, weil sie für damalige Verhältnisse zu schnell unterwegs waren, oder gar Lenker, die Unfälle verursachten und sich dann aus dem Staub machten, erzürnten bereits früh die Gemüter.
Man wollte die verantwortlichen Personen identifizieren können und daher gab es ab 1893 die Vorschrift, dass kleine Schilder mit dem Namen und der Anschrift des Besitzers sowie einer zugewiesenen Nummer auf der linken Seite des Fahrzeugs angebracht werden mussten. Dies galt sowohl für Pferde- als auch für Motorkutschen. Im Vorbeifahren waren diese Schilder jedoch kaum zu lesen. Ab 1899 musste man sich außerdem bei der Präfektur des Departments registrieren lassen.
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Die steigende Zahl von Unfällen im Straßenverkehr veranlasste die französische Regierung 1901 zur
Einführung eines nationalen Registrierungssystems (es galt mit kleinen Adaptierungen bis 1928). Die Nummernschilder mussten rechteckig sein und an der Vorder- und Rückseite des Fahrzeugs
angebracht sein. Auf schwarzem Untergrund mit weißer Schrift stand eine dreistellige Nummer sowie
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ein Buchstabe, z.B. 730-B. Da die Zahl der Automobile noch nicht sehr hoch war, plante man zwei
Serien von 999 Zahlen (bei der 2. Serie wurde einfach der Buchstabe verdoppelt, z.B. 642-MM). Der Buchstabe wies übrigens auf das „arrondissement minéralogique“, also die jeweilige Stadt/Region
hin: B stand für Bordeaux, M für Marseille, T für Toulouse, usw. Paris wurden gleich mehrere Buchstaben zugewiesen (EGIUX). Unsere Beispielbilder zeigen das N für Nancy und das H für
Chambéry.
Die Kennzeichen mussten und Tag und Nacht lesbar sein. Doch nicht alle Autofahrer waren davon begeistert – ganz im Gegenteil – und so ölten sie die Nummernschilder ein und der allgegenwärtige Straßenstaub erledigte den Rest.
Dieses Registrierungssystem kam rasch an seine Grenzen, da die Zahl der Fahrzeuge stetig anstieg. Deshalb erhielt Marseille einen weiteren Buchstaben (V), ebenso Nancy (O) und Poitiers (K). Doch auch diese Erweiterung erwies sich schnell als zu begrenzt. Man hängte daher an den Buchstaben eine Ziffer zwischen 2 und 9 an (z.B. 302-T4). Ab 1910 wurden dann vierstellige Nummern vergeben. 1919 betraf eine Neuordnung der Regionen nach dem Ersten Weltkrieg zum Teil auch die Autokennzeichen. Eine größere Änderung gab es dann erst wieder 1928.
Unsere Fotografien müssen folglich nach 1901 entstanden sein. Das Automobil aus Chambéry hat eine sehr niedrige Nummer, wodurch es vermutlich schon kurz danach zugelassen wurde. Auch das Fahrzeug aus Nancy wurde wahrscheinlich vor 1904 zugelassen, denn in diesem Jahr wurde ein weiterer Buchstabe (O) vergeben. (Oder der Besitzer hatte die Nummer schon für ein älteres Fahrzeug bekommen und die Kennzeichentafel wiederverwendet.)
Quellen:
Système d'immatriculation Francaise de 1901 à 1928 unter: http://plaque.free.fr/f_rec2f.html (abgerufen am 19.09.2021)
Plaque d'immatriculation francaise unter: https://fr.wikipedia.org/wiki/Plaque_d%27immatriculation_fran%C3%A7aise (abgerufen am 19.09.2021)
Bernd Stegmann: 125 Jahre Automobil Von 1886 bis 1910 - Als die Autos laufen lernten unter: https://www.auto-motor-und-sport.de/reise/125-jahre-auto-von-1886-bis-1910-als-die-autos-laufen-lernten/ (abgerufen am 18.09.2021)
Les immatriculations de la belle époque unter: http://immat1901.free.fr/index2.html (abgerufen am 19.09.2021)
Thierry Baudin: Plaques et immatriculations en France :Une rétrospective 1901-2009 unter: http://plaque.free.fr/eur/f/F_Extrait_1901-1928_TB.pdf (abgerufen am 19.09.2021)