Die Exposition universelle de 1900 fand vom 15. April bis zum 12. November an zwei verbundenen Standorten statt. Das Ausstellungsgelände (216 Hektar) umfasste das Marsfeld mit dem Eiffelturm und der Maschinenhalle von 1889, die Kolonialausstellung vor dem Trocadero-Palast, die „Rue des Nations“ entlang der Seine, die sich gegenüber liegenden Paläste Grand Palais und Petit Palais sowie die Esplanade des Invalides.
Da es über dieses Großereignis relativ viel Bildmaterial und Literatur gibt, gewinnt man einen
guten Eindruck über die unglaubliche Fülle an Gebäuden und Ausstellungsobjekten – von denen hier leider viele unerwähnt bleiben müssen. Denn wir werden uns auf die Spuren unseres anonymen
französischen Fotografen begeben und auf der Basis seiner Aufnahmen versuchen, seinen Besuch bei der Ausstellung zu rekonstruieren (zumindest die Aufnahmestandorte können wir
identifizieren).
Zuvor gilt es jedoch noch eine Frage zu klären: Wenn es in Paris mehrere Weltausstellungen gegeben hat – woran erkennt man, dass es sich bei diesen Aufnahmen um das Jahr 1900 handelt?
Die Antwort liefern zwei Fotografien: eine, die im Bereich der Kolonialbauten, genauer gesagt vor dem Palais von Französisch Indien, aufgenommen wurde. Die Straßenlaterne zeigt die Jahreszahl 1900. Diese ist auch am Château d’Eau ganz oben zu sehen.
Julius Meier-Graefe schrieb in seiner Einleitung von „Die Weltausstellung in Paris 1900“: „Wer in diesem tollen Trubel treibt, […] wird kaum daran denken, dass nach einer kurzen Spanne Zeit, die gerade ein Zehntel von dem Aufwand, den die Schöpfung dieser Welt gekostet hat, dauern wird, alles zu Ende sein wird. Was bleibt von alledem?“
Ein Zitat aus dem Vorwort von Georg Malkowskys „Die Pariser Weltausstellung in Wort und Bild“ zeigt, dass viele der Gebäude wieder abgerissen wurden:
„Die Pforten der Pariser Ausstellung haben sich geschlossen, und das Zerstörungswerk hat begonnen. Was sich an beiden Ufern der Seine für den kurzen Zeitraum von wenigen Monaten an Prachtbauten erhoben, ist zum weitaus grössten Teil dem Untergange geweiht und nur der Eiffelturm, die beiden Kunstpaläste und ein paar mächtige Eisenkonstruktionen, wie die Maschinenhalle und der Pavillon der Gartenausstellung, werden von dem Wunderwerk zeugen, das an der Jahrhundertwende der Menschheit wie eine Fata Morgana ihrer Kulturentwickelung vorgeführt wurde.“
Somit können wir ein paar Motive zeigen, die also nur für kurze Zeit – also im Jahr 1900 – zu bestaunen waren.
Beginnen wir unseren Rundgang beim Eiffelturm, einem 324 Meter hohen Eisenfachwerkturm und Meisterwerk der Ingenieurskunst, am Marsfeld nahe der Seine. Er wurde für die Weltausstellung 1889 gebaut und war damals durchaus umstritten. Heute zählt der nach seinem Erbauer Gustave Eiffel benannte Turm zu den beliebtesten Wahrzeichen.
Das Wasserschloss (Châteu d’Eau) befand sich vor dem Elektrizitätspalast (Palais de l’Electricité). Es wurde als Feenschlösschen oder Schmuckkästchen bezeichnet und inspirierte zu dieser Formulierung: „[…] der Anblick des Prachtbaues, der in blendender Lichtfülle spielenden Wasser, die schäumend und brausend aus riesiger Höhe hinabstürzen, deren spiegelnde Oberfläche in tausend Farben und Nuancen jeden auffallenden Lichtstrahl bricht und reflektiert, so überwältigend und mächtig er ist, er giesst mit der Poesie seiner Farbenpracht, mit der reinen Grazie seiner Formen in die Seele des staunenden Beschauers gleichzeitig jene Empfindung erhebenden Wohlbehagens, wie sie jeder künstlerische Genuss hervorbringt.“ (Malkowsky, S. 124)
Meier-Graefe hingegen sah im Château d’Eau das Werk eines größenwahnsinnigen Konditors und wies darauf hin, dass „wie bei so vielen verunglückten Projekten“ auch hier ein vernünftiger und praktischer Gedanke zu Grunde lag.
„Zur Erzeugung und zur Kondensation der Dampfmassen war ein enormes Quantum Wasser nötig. Die gesamte, zu verschiedenen Zwecken verwandte elektro-dynamische Kraft der Ausstellung beansprucht 12000 Pferdekräfte, die wiederum per Sekunde 12000 Liter Wasser brauchen. Es gab keinen Grund diese Wassermenge zu verbergen, der Gedanke lag vielmehr nahe, sie vor ihrer Abführung zu den Maschinen zu dekorativen Zwecken zu verwerten, und man verfiel auf eine Kaskadenanlage. Wasserspiele gehören seit undenklichen Zeiten zu den Requisiten des Ausstellungswesens. […] Das oberste Bassin befindet sich 29 Meter über dem Erdboden, von da fällt die Wassermenge in das 11 Meter tiefer gelegene Becken und verteilt sich von da in die verschiedenen darunterliegenden, bis es sich in dem untersten Bassin für seine praktische Bestimmung sammelt und von da zu den verschiedenen Maschinenanlagen geleitet wird.“ (Meier-Graefe, S. 23-24)
Blickte man von der Seine zum Eiffelturm, so befand sich gleich links davon eine kleine Parkanlage mit einem Teich. Stühle luden zum Verweilen ein. Die Fotografie zeigt im Vordergrund eine Dame, es dürfte sich dabei um die Gattin des Fotografen handeln (sie taucht mehrmals auf), die auf einem der Stühle Platz genommen hat. Im Hintergrund erkennt man das Palais du Costume. Der Kostümpalast war ein prächtiges Gebäude, in dem eine Ausstellung von Frauenkleidern untergebracht war. Gezeigt wurde zum Beispiel die Entwicklungsgeschichte des modernen Frauenkostüms. Für viel Aufmerksamkeit sorgte auch die Korsettausstellung. Eine schmale Taille war erstrebenswert und so gab es seidene, tüll- und spitzenverzierte und mit Pailletten benähte Korsetts. Rechts im Foto erkennt man einen Teil des Palais Lumineux.
Über die Jenabrücke ging es auf die andere Seite der Seine in Richtung Kolonialbauten und auf den Hügel zum Trocadero. Auf der Fotografie kann man deutlich den Straßennamen lesen: Rue d’Alger. In dem Gebäude mit der typischen Architektur befindet sich ein Restaurant (Restaurant de l’Algerie). Rechts auf dem Foto ist der Palast von Algier abgebildet, der folgendermaßen beschrieben wurde:
„Es ist ein Haus, das sich wenig von den üblichen äusserlich so schmucklosen Häusern des Orients unterscheidet. Höchstens, dass ihm eine breite Freitreppe etwas Imposantes – etwas nicht allzu Imposantes – giebt. Die Bauart ist einförmig: ein weisser Kasten, aus dessen Dach Kuppeln und Minarets hervorragen. Nur bei näherer Betrachtung entdeckt man einige farbige Unterbrechungen des Weiss in Gestalt von Fayencen, die aber im Gesamteindruck vollkommen verschwinden. Die Kuppeln tragen mit Glühlampen gebildete Linienornamente von einfacher Zeichnung. Dem schmucklosen, etwas langweiligen Äusseren entspricht das schmucklose Innere. Die Architekten haben so ziemlich alles vermieden, was an den phantastischen Zauber des Orients hätte erinnern können.“ (Meier-Graefe, S. 198-9)
Wie subjektiv Geschmack sein kann, zeigt eine völlig andere – positivere – Darstellung des algerischen Viertels:
„[…] nur die in Algier vorkommenden schwarzen Hölzer, die die verandaartigen Balkons stützen, heben sich scharf vom Mauerwerk ab. Die dem orientalischen Hause eigenen erkerartigen Ausbauten von durchbrochener Arbeit, die sogenannten Maschrebijen fehlen selbstverständlich nicht. […] Die Maschrebijen mit ihren kunstvollen, zierlichen Holzgittern gewähren einen sehr anziehenden Anblick. Meist sind sie überragt von Fenstern mit bunten Glasstückchen, die in eine von einem bemalten Holzrahmen umgebene Gipsarabeske eingelassen sind.“ (Malkowsky, S. 45)
Von diesem Teil der Ausstellung können wir eine weitere Fotografie präsentieren, die im Vordergrund noch einmal das algerische Restaurant zeigt. Ein Schild (links oben: TABLE D'HÔTE) verrät, dass das Tagesmenü um 1 Franc erhältlich war. Ein anderes Schild weist den Besuchern den Weg zum nächsten WC (water closets)
Entlang der Straße wurden Stühle aufgestellt und im Hintergrund sieht man den Trocadero-Palast und rechts hinten den Pavillon Russlands.
Auf diesem Bild kann man ein interessantes Detail erkennen: "Fauteuils roulants". Besonders fein gekleidete Damen wählten diese bequeme Art der Fortbewegung und ließen sich von
Ausstellungsbeamten in solchen "Rollstühlen" herumrollen. Es gab dafür eigene "Fauteuils roulants-Halteplätze". Der Tarif: 65 Centimes pro Viertelstunde. Während zwei Ausstellungsbeamte
gerade ihre Fauteuils roulants den Hügel hinauf schieben, kann man rechts unten zwei weitere erkennen (siehe Ausschnitt). Auf dem Foto, das beim Château d'Eau aufgenommen wurde, kann man übrigens
weitere Beispiele erkennen (siehe Ausschnitt).
Überquerte man die breite Straße, die direkt zum Trocadero hinauf führte, gelangte man in den Bereich der französischen Kolonien, wo zunächst der Pavillon von Senegal und Sudan (sie teilten sich ein Gebäude) stand. In unmittelbarer Nähe befand sich der wunderschön verzierte Palast von Französisch Indien (Indes Francaise). Er stellte ein Juwel der neo-brahmanischen Zeit dar. Auf der Fassade waren zum Beispiel hinduistische Götter, Elefanten und am Eingang Reiter auf Pferden zu sehen. Dieser Bau und seine Ausstellung sollten den Reichtum und die Ressourcen dieses Gebiets demonstrieren.
In der Ecke rechts unten entdecken wir wieder die Frau des Fotografen. Vor den Stufen befindet sich eine kleine Gruppe elegant gekleideter Damen (begleitet von einem Herrn) und am oberen Ende der Treppe sitzt ein Mann auf einem Sessel. Ich denke, es handelte sich um einen sogenannten Ausstellungsdiener, zu deren Uniformen es eine amüsante Anekdote gibt:
„Die Verwaltung hat einen faux pas gemacht, unter dem das Aufsichtspersonal schwer zu leiden hat. Als sie die nötigen Kleidungsstücke für die Dienerschaft bestellte, war es Winter. Die Firmen, denen die Lieferung übertragen wurde, wählten der Bestellung und der Jahreszeit entsprechend recht warme und dicke Stoffe. Es hatte niemand daran gedacht, dass es auch einmal Juni und Juli werden könnte. Das Personal waltet seines Amtes – im Schweisse seines Angesichts und tröstet sich mit der Hoffnung, dass man ihm die Uniform auch nach Schluss der Ausstellung für den Winter überlassen wird.“ (Malkowsky, S. 80)
Weiter ging es dann hinauf zum Palais du Trocadéro (für die Weltausstellung 1878 erbaut), von wo aus man den schönsten Blick auf den Eiffelturm hatte. Dieser Prachtbau bestand aus einer Veranstaltungshalle (4.600 Sitzplätze) und hatte auf jeder Seite gebogene Flügel, in denen sich jeweils ein Museum sowie Konferenzräume befanden. Selbst dieser Palast steht heute nicht mehr.
Der Fotograf erreichte schließlich die Avenue Nicolas II. und somit den Kleinen Kunstpalast (Petit Palais), der auf der Fotografie links zu sehen ist. (Gegenüber, außerhalb des Bildausschnitts lag das Grand Palais.) Die Aufnahme wurde in Blickrichtung des Invalidenpalastes gemacht (siehe Kuppel im Hintergrund). Zwischen Petit und Grand Palais, und dem Invalidenpalast befand sich nur "Ausstellungsbauwerk". Das Petit Palais wurde im Stil der Belle Èpoque errichtet. Erwähnenswert sind auch das vergoldete schmiedeeiserne Eingangstor und die Fassade des halbrunden Gebäudes, die damals zum Großteil aus Fenstern bestand.
Über die Brücke Pont Alexandre III. gelangte unser Fotograf zurück auf die andere Flussseite und hier endet unser (nachempfundener) Rundgang. Die Bilder sind eine Mischung aus den typischen Highlights der Weltausstellung und seiner ganz individuellen Wahrnehmung. Was sagt uns die Motivwahl über den Menschen? Was hat ihn besonders interessiert oder fasziniert? Auf jeden Fall hat er uns sehr besondere historische Dokumente und Einblicke hinterlassen.
Zum Abschluss ein kleines Detail zur rechtlichen Situation: Im Guide Lemercier sind viele praktische Informationen enthalten, so auch die Fotografie betreffend. Die Verwendung von Fotoapparaten, die man in der Hand hielt, war kostenlos. Für Kameras, die man aufstellte, war jedoch eine schriftliche Genehmigung erforderlich, die 25 Francs pro Tag oder 1.000 Francs für die Dauer der Ausstellung kostete. Außerdem durfte auch schon damals kein ausgestelltes Objekt ohne die Erlaubnis des Ausstellers fotografiert werden.
Quellen:
Malkowsky, Georg [Red.]: Die Pariser Weltausstellung in Wort und Bild, Berlin, 1900. Unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/malkowsky1900 (abgerufen am 28.03.2021)
Meier-Graefe, Julius [Hrsg.]: Die Weltausstellung in Paris 1900, Paris, 1900. Unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/meiergraefe1900 (abgerufen am 28.03.2021)
Guide Lemercier: Exposition Universelle de 1900, Paris, 1900. Unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/weltausstellung1900e (abgerufen am 29.03.2021)
https://www.akg-images.de/archive/Der-ehemalige-Trocadero-Palast-auf-dem-aktuellen-Platz---Fotomontage-2UMEBMYZ3M91L.html (abgerufen am 31.03.2021)
https://de.wikipedia.org/wiki/Weltausstellung_Paris_1900 (abgerufen am 31.03.2021)
https://de.wikipedia.org/wiki/Eiffelturm (abgerufen am 31.03.2021)