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Kennen Sie den Turm im See?

Die Glasnegative aus einer der zuletzt erworbenen Schachteln stammen zwar (wie meist) von einem unbekannten Fotografen, dennoch hinterließ er uns durch seine sorgfältige Arbeit einige wichtige Hinweise. Er bewahrte die Glasplatten in Hüllen auf und hatte diese beschriftet und zum Teil sogar mit einer Jahreszahl versehen.

 

Eines der Bilder zeigt ein Dorf mit Menschen, einem Kirchturm und einem Gasthaus. Auf der Hülle stand „Graun, Kirchturm“ und die Aufnahme war um 1910 entstanden (andere Fotografieren aus diesem Konvolut stammen von 1909 und 1911). Somit war die Ausgangslage für eine Recherche ideal.

 

Schnell hatte ich den Ort Graun im Vinschgau in Südtirol gefunden. Auch der Kirchturm ragte mir auf zahlreichen Bildern entgegen – aber nicht so, wie ich es erwartet hatte. Vor der Bergkulisse des Langtauferer Tals liegt ein türkisfarbener See, der Reschensee, und mitten im Wasser: ein romanischer Kirchturm aus dem 14. Jahrhundert.

 

So kurios dieses Motiv auf den ersten Blick scheinen mag, so traurig ist seine Geschichte:

 

Mit der Industrialisierung stieg der Energiebedarf und so gab es bereits früh Pläne für einen Stausee, der Norditalien über ein Wasserkraftwerk mit Strom versorgen sollte. Erste Vorhaben sahen bloß eine Anhebung des Wasserspiegels um fünf Meter vor, doch 1939 wurde ein Projekt eingereicht, das den Reschen- und Graunersee um 22 Meter aufstauen (und verbinden) sollte. Wie so oft bei derartigen Plänen wurde die Bevölkerung komplett übergangen.

 

Der Ausbruch des 2. Weltkriegs stoppte vorerst das bereits begonnene Bauvorhaben. Doch nur zwei Jahre nach Kriegsende wurden die Arbeiten wieder aufgenommen. Alle Versuche der Einwohner, den Weiterbau zu verhindern, blieben erfolglos und so wurden schon im Sommer 1950 die Schleusen geschlossen und der Grund und Boden geflutet. Die Häuser des Ortes Graun wurden gesprengt und die Bewohner umgesiedelt bzw. in einem notdürftig errichteten Barackenlager am Ausgang des Langtauferertales untergebracht. Viele Familien verloren ihre Existenz und es kam zu erschütternden Szenen.

 

Neben dem Kirchturm kann man auf der Fotografie auch ein Gasthaus erkennen. Ich habe eine Künstlerkarte, abgebildet im Kalender (Blatt Februar 2020) der Raiffeisenkasse Obervinschgau, entdeckt, die das Gasthaus noch besser zeigt und den vollständigen Namen verrät: Gasthaus Traube Post.

 

Was verrät dieser Name? Traube war ein christliches Symbol und als Gasthausname beliebt. Den Beinamen Post erhielt damals ein zentral gelegenes Gasthaus, das verpflichtet war, das Postamt zu führen. Es erhielt im Gegenzug das Privileg, dass die Postkutsche vor dem Haus hielt.

 

In einem Artikel von Lukas Eberle wird die Geschichte von Theresa Theiner erzählt, die 18 Jahre alt war, als die Häuser im Dorf gesprengt wurden. Der Lieblingsplatz ihres Bernhardiners war unter dem Küchentisch im Gasthaus Traube Post, das von ihren Eltern geführt wurde. Er verstand nach der Umsiedelung der Familie natürlich nicht, warum der Tisch weg war. „Er stand auf den Ruinen von unserem Haus und suchte den Tisch. Als dann alles geflutet war, ist er immer rausgeschwommen, und wir mussten ihn mit dem Boot zurückholen.“ (Theresa Theiner)

 

„Die Einzelheiten dieser Tage haben sich ihr eingeprägt wie Kriegserinnerungen. Wie auf einmal das Wasser im Keller stand und sie Bretter auslegen mussten, um noch an die Weinfässer ranzukommen. Oder wie ihre Familie innerhalb einer Woche alles Wertvolle auf einen Lastwagen packen musste, um es zu retten.“ (Lukas Eberle, www.welt.de)

 

Während die Touristen heute den See als beliebtes Fotomotiv nutzen (im Winter sogar auf dem zugefrorenen See neben dem Kirchturm posierend), blicken manche Bewohner noch mit gemischten Gefühlen auf dieses Mahnmal einer schmerzlichen Geschichte.

 

 

Ein weiteres Foto zeigt das Hotel Langtaufers, das von Alois Joos aus Graun errichtet und 1902 fertiggestellt wurde. Es befand sich auf 1930 Metern über dem Meer und sollte den Tourismus im Tal beleben. Joos bewarb sein Hotel in einer Zeitung: „Gut bürgerliches Haus, schönste zugleich milde Lage am Fuße der Weißkugel, komfortabel eingerichtet.“ Bereits Ende des Jahrzehnts musste das Hotel aufgrund der damaligen Wirtschaftskrise versteigert werden. 1945 wurde es von einem Brand zerstört und nicht wiedererrichtet.

 

 

Quellen:

Kurt Ziernhöld: Warum steht der Turm im See? Unter: https://www.vinschgau.net/de/reschenpass/kultur-kunst/sehenswuerdigkeiten/turm-im-see.html (abgerufen am 2. September 2020)

Der Obervinschgau in historischen Bildern. Unter: www.raiffeisen.it/de/obervinschgau/kalender2020.html (abgerufen am 2. September 2020)

Lukas Eberle: Warum der Blick auf den See im Dorf Hass auslöst. Die Welt. 27.10.2011 Unter:

https://www.welt.de/reise/nah/article13680202/Warum-der-Blick-auf-den-See-im-Dorf-Hass-ausloest.html (abgerufen am 2. September 2020)